Was Politiker nicht sagen by Gregor Gysi

Was Politiker nicht sagen by Gregor Gysi

Autor:Gregor Gysi
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783843727433
Herausgeber: Ullstein eBooks
veröffentlicht: 2022-03-18T00:00:00+00:00


12. Glanz und Elend der Talkshows

* * *

Wer die deutsche Einheit haben will,

muss sich auch mit mir abfinden.

Billiger ist sie nicht zu haben.

(Zu persönlichen Angriffen in einer Parlamentsdebatte im Mai 1996)

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Technische Möglichkeiten bestimmen darüber, wie man sich miteinander verständigt. Die rhetorischen Fähigkeiten von Politikerinnen und Politikern waren in früheren Zeiten naturgemäß noch nicht so sehr an die großen, öffentlichen Plätze gebunden. Vor der Erfindung des Radios, erst recht vor der Erfindung des Fernsehgerätes, dominierte die schriftliche Form der Kommunikation. Wenn ich an Karl Marx und Friedrich Engels denke, so gibt es kaum Hinweise auf ihre Rhetorik. Sie schrieben Bücher und Artikel. Wichtig war deshalb, dass Arbeiterinnen und Arbeiter endlich auch Lesen und Schreiben lernten. Interessant übrigens, dass Karl Marx ausgerechnet Das Kapital als allgemeinverständlich bezeichnete – von allgemeiner Verständlichkeit habe ich allerdings andere Vorstellungen.

Auch noch in der Zeit von Otto von Bismarck, August Bebel, später Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht spielte das Schriftliche eine dominante Rolle. Erst allmählich, dann aber mehr und mehr wurde der öffentliche Raum zum Austragungsort der Politik. Die Formen der Wahrnehmung änderten sich. Mit dem Rundfunk gewann die Stimme deutlich an Gewicht. Der lange Weg in die moderne Mediengesellschaft begann. Dieser Begriff bezieht heute seine Wahrheit auch aus dem, was bedenklich daran ist. Mediengesellschaft heißt nicht selten: Medien dominieren die Gesellschaft. Es geht seit der Erfindung des Fernsehens nicht mehr nur um die Art zu sprechen, sondern auch um die Art der Gesamtwirkung: Kleidung und Gesichtsausdruck werden auch in der Politik zu Kriterien einer Bewertung, die doch zuvörderst inhaltlichen Aspekten folgen sollte. Debatten habe ich hinter mir, welche Krawatten ich zu welcher Gelegenheit tragen sollte …

Wir Politikerinnen und Politiker sind inzwischen Dauerrednerinnen und Dauerredner, vom Morgenmagazin bis zu irgendeiner Late Night Show. Dazwischen mehr Wortmeldungen zu zahllosen Anlässen als Tassen Kaffee oder Tee. Die Befürchtung muss ausgesprochen werden, dass dabei die Denkgeschwindigkeit des Hirns jenem Tempo, mit dem wir den Mund aufmachen, nicht immer gewachsen sein kann. Da hilft irgendwann auch der Kaffee nicht mehr.

Es gehört zu den Techniken der Politikprofis, dass sie antworten, auch wenn niemand fragt. Oder aber sie werden konkret gefragt und quatschen drauflos. Im Fernsehen ist das tagesdurchgängig zu beobachten: Man zieht seine Statements durch, ohne mit der Wimper zu zucken. Dieses stereotype Verhalten missachtet Erwartungen des Publikums an Information und mögliche Meinungsbildung. Als jemand, der wahrlich nie geschont wurde von Journalistinnen und Journalisten, wundere ich mich mitunter über deren Langmut und Gleichmut. Denn so, wie es sich gehört, jemanden ausreden zu lassen, so gehört es zur Kultur des (Miteinander-)Redens vor der Kamera, Schwätzerei und fortwährend hohles Gerede entschieden zu unterbrechen.

Als das Fernsehen noch in den Kinder- und Jugendschuhen steckte, waren auch TV-Gespräche eine Rarität. Zur Zeit der ersten Interviews von Günter Gaus für seine Reihe Zur Person, die Kulturgeschichte schrieb, bedeutete ein Auftritt von Politikerinnen und Politikern im Fernsehen eine außerordentliche, aber eben auch völlig neue Chance zur Selbstdarstellung mit (möglicherweise) nicht zu unterschätzenden Folgen fürs Verhalten des Wahlvolkes. Vor dem Interview mit Willy Brandt ging dieser gemeinsam mit Egon Bahr tagelang die Themen und Details durch, die dieser Herr Gaus erfragen könnte.



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